Politik reagiert

Der Tod von neun jungen Menschen in Hanau vor einem Jahr, Opfer von rassistischem Terror, hat die Anständigen in unserer Gesellschaft schwer getroffen. Nun reagiert auch die Politik. Nicht zuletzt wegen der Ermordung des Kasseler Politikers Walter Lübcke. Der Kabinettausschuss der Bundesregierung hat im November 2020 einen Maßnahmenplan mit 89 Punkten zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus vorgestellt, mit dem er auf die wachsende Gefahr reagieren will. Bemerkenswert: Er hat auch die entsprechenden Mittel zu seiner Umsetzung bereit gestellt.

Zivilgesellschaft reagiert auch

Seit den Morden von Hanau hat auch in der Zivilgesellschaft der Diskurs über rechte Gewalt Fahrt aufgenommen, mehr noch als nach Bekanntwerden der NSU-Morde. Die Öffentlichkeit reagiert nun sensibler und es scheint sich nicht um ein reines Strohfeuer zu handeln. Die Begriffe Antirassismus und Antidiskriminierung werden präsenter, nicht zuletzt auch durch den Diskurs der „Black Lifes Matter“-Bewegung. Die Unterstützer der Diversität mehren sich. In Hanau stehen Migrant:innen und Nicht-Migrant:innen Seite an Seite unter dem Namen „Initiative 19. Februar Hanau“.

Geschieht jetzt wirklich etwas?

Die Frage treibt uns um, ob es diesmal tatsächlich einen qualitativen Unterschied im Kampf gegen den Rassismus geben wird. Wie oft dachten wir, dass nun das Ende der Duldsamkeit erreicht ist und nun endlich etwas Substanzielles geschieht. Und kann die Bewegung in Politik und Zivilgesellschaft trügen?

Wenn jemand mein Smartphone zwischen die Finger bekäme und darin über meine Social-Media-App scrollen würde, bekäme diese Person den Eindruck, die ganze Welt sei nun aufgewacht und begehrte auf gegen Diskriminierung, Rassismus und Gewalt, sei voller Unterstützer der Diversität in unserer Gesellschaft.

Ich weiß aber, dass es auch andere Smartphones in dieser Gesellschaft gibt. Wenn man dort über die Seiten derselben App streicht, dann grinsen die Zyniker einem insgeheim oder unverblümt entgegen. Leugnungs- und Beschwichtigungs-Sprech, Bagatellisierung und Schuldumkehr, Verschwörungsmythen und Hassrede heizen die Luft in dieser Blase auf.

Rassistisch motivierte Straftaten sind keine Einzelfälle

Wenn sich immer mehr Menschen in ihrer Blase eine eigene Welt zusammendichten, kann von einer Welt, von einer Gemeinschaft nicht die Rede sein. Wenn dann einer mit der Waffe aus seiner Blase heraustritt und scheinbar wie wild um sich schießt, erscheint dies wie aus dem Nichts. Konnte keiner vorhersehen, ein Einzelfall, heißt es dann. Doch rassistisch motivierte Straftaten sind keine Einzelfälle. Sie haben einen Nährboden.

Lügenbeine

Lügen haben kurze Beine, sagt ein altes Sprichwort. Und man ist verwundert, welche abstrusen Lügengeschichten und Theorien Menschen so glauben können und schließlich zu Gewalt greifen. Die deutsche Bevölkerung werde gegen Migranten ausgetauscht, heißt es da. Oder das Abendland werde islamisiert. Man müsse sich zur Wehr setzen, ehe es zu spät sei.

Man fragt sich, wann sich diese kurzen Lügenbeine endlich müde laufen. Stattdessen strömen die Lügen auf Menschenbeinen auf die Straße, schmuggeln sich ein in jeden Protest, so auch gegen die Corona-Maßnahmen oder stellen sich gegen Impfungen, die uns angeblich alle vergiften oder hörig machen sollen. Keine abstruse Geschichte wird dabei ausgelassen. Und man ist verwundert, warum bei vielen Menschen unsere vielzitierte Aufgeklärtheit so gar nicht verfängt. Man ist auch verwundert darüber, wie leicht sie sich von Zynikern mit Taschenspielertricks den Verstand rauben lassen.

Zusammenhalt

So wird das nichts mit dem Zusammenhalt und der Gemeinschaft in einer von Vielfalt und Freiheit geprägten Gesellschaft. Wären die Blasen, in die sich Menschen begeben, Staaten im Staate, so müsste man sich fragen, wo die Botschaften und die Diplomaten, die Kommunikationskanäle und -strategien sind, um Konflikte, ja Kriege zu vermeiden oder einzudämmen. Die Bemühung militärischen Vokabulars ist durchaus angebracht, geht es doch um vorsätzlich Getötete, die zu beklagen sind.

Grenzgänger gegen Hass gesucht

Um nicht missverstanden zu werden: Gegen hartnäckige Ideologen ist kein diplomatisches Kraut gewachsen, gleichgültig auf welcher Seite sie sich befinden. Es geht um die Menschen, die sich (noch) nicht dem Ziel, andere Menschen auszugrenzen, zu verdrängen, ja zu vertreiben, verschrieben haben. Und das ist die überwältigende Mehrheit in unserer Gesellschaft. Doch was, wenn sich diese Menschen ebenfalls mittlerweile in einer Blase befinden, in der zynischer Hass, Bagatellisierung von Gewalt und schließlich Gewalt selbst vorbereitet werden?

Da wünscht man sich, dass es Grenzgänger gegen Hass gibt, die verstehen, wie jemand in die Fänge von Hassreden und Verschwörungsmythen geraten kann. Man hofft, dass in diesen Blasen noch einige sitzen, die rechtzeitig erkennen, wenn jemand droht in die Gewaltbereitschaft zu kippen oder sie sogar auszuüben. Es ist ein gewisser Funken Menschenverstand und eine Intuition, die dann Alarm schlagen und eingreifen müssen, wenn sich in einer Gruppe das Böse Bahn zu brechen droht.

Wir müssen Antirassisten sein

Dann ist zu hoffen, dass diese Grenzgänger, die die Menschen in der Blase sehen, beherzigen, was unser Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte: „Es reicht nicht aus, kein Rassist zu sein, wir müssen Antirassisten sein.“ Und in manchen Situationen gilt es, seinen ganzen Menschenverstand und seinen Mut zusammen zu nehmen und Nein zu sagen gegen Hass und Rassismus.

Haltung zeigen gegen Rassismus!

Ja, Politik und Zivilgesellschaft reagieren. Menschen reagieren. Sie stehen auf gegen Diskriminierung und Rassismus. Direkte Folge der Anschläge von Hanau war auch die Gründung einer Arbeitsgruppe im Menschen stärken Menschen Programm des Bundesfamilienministeriums. Diese Arbeitsgruppe beschäftigte sich im letzten Jahr damit, wie man Haltung zeigen kann gegen Diskriminierung und für Zusammenhalt in der Gesellschaft.

Das Menschen stärken Menschen Programm erreicht mit Tausenden Ehrenamtlichen etwa 125.000 sozial benachteiligte Menschen, darunter auch Migrant:innen und geflüchtete Menschen. Es gilt, diesen Ehrenamtlichen in ihrer Arbeit mit sozial benachteiligten Menschen beizustehen. Denn viel zu oft sind auch Helfer, die Menschen mehr Teilhabe in der Gesellschaft verschaffen wollen, den Grenzen von Diskriminierung und Hass ausgesetzt.

In einer „Initiative Haltung zeigen – Vielfalt stärken“ will nun eine Reihe von Trägern im Menschen stärken Menschen Programm diesem Problem begegnen. Diese Organisationen haben nach Hanau gemerkt, dass sie mehr zusammenrücken und sich solidarisieren müssen, um im Arbeitsalltag jeder Form der Diskriminierung – nicht nur dem Rassismus – begegnen und Vielfalt fördern zu können.

Dies ist nur eine Initiative von Vielen, die in diesem Jahr seit Hanau entstanden sind. Und sie wird noch ausgebaut.

Wir erinnern, um zu verändern!

Der Grund für den Tod der Opfer von Hanau war Hass. Doch Hass darf nicht das letzte sein, was ihnen zuteilwurde. Etwas muss über diesem Hass stehen, ihn übertönen, überwinden, überleben. Ehre und Erinnerung sollen ständig die Begleiter ihrer Namen sein und die Begleiter ihrer Angehörigen.

Wir müssen immer wieder auch an länger zurück liegende Ereignisse erinnern, um die Menschen aufzurütteln und zu zeigen, dass es sich nicht um Einzeltaten handelt. Wir müssen erinnern, um in der Gesellschaft etwas zu verändern.

Und es gibt viele Namen, viele Opfer von Menschenhass, mindestens 187. Sie heißen Abdurrahim, Ayse, Bahide, Fatih, Ferhat, Gökhan, Gülistan, Gürsün, Habil, Halit, Hamza, Hatice, Hülya, Ismail, Jana, Kaloyan, Kevin, Marwa, Mehmet, Mercedes, Said Nesar, Saime, Sedat, Süleyman, Theodoros, Vili, Walter, Yeliz…

Wer die Namen kennt, soll sie erinnern. Immer wieder.