Die Ermordung Marwa El-Sherbinis am 1. Juli 2009 im Landgericht Dresden löste international Entsetzen aus. Sie wurde Opfer von antimuslimischem Rassismus. An ihrem 13. Todestag gedachte ihr nun der Sozialdienst muslimischer Frauen mit einer Online-Podiumsdiskussion mit prominenten Gästen. Vor Beginn der Diskussion wurden ihr Leben, die verstörenden Umstände ihres Todes und seine Auswirkungen auf Politik, Medien und Gesellschaft nachgezeichnet. Ihr Todestag ist der Höhepunkt der alljährlich begangenen Woche gegen antimuslimischen Rassismus.

Zur Podiumsdiskussion waren Gäste aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft geladen, darunter Helge Lindh (MdB, Berlin), Prof. Dr. Karim Fereidooni (Ruhr Universität Bochum), Dr. Meltem Kulaçatan (Universität Oldenburg), Khola Maryam Hübsch (Journalistin, Frankfurt a. M.) und Ayten Kiliçarslan (Vorsitzende des SmF-Bundesverbandes), die auch Gastgeberin der Veranstaltung war. In der Diskussion wurde der Ausdruck antimuslimischer Rassismus aus dem Titel der Veranstaltung reflektiert. In Bezug auf Ressentiments bis hin zur Feindschaft gegenüber Muslim:innen werden für gewöhnlich auch die Begriffe Islam- und Muslimfeindlichkeit und Islamophobie neben antimuslimischem Rassismus verwendet.

Meltem Kulaçatan sieht den Rassismusbegriff in diesem Zusammenhang als gerechtfertigt, auch wenn er sich auf eine Religionszugehörigkeit bezieht. „Rassismus funktioniert auch ohne Rasse”, sagte die Wissenschaftlerin und zog dabei Parallelen zur Begriffsbildung in der Feminismusforschung. Sie nutze alle Begriffe parallel und analysiere dabei sehr genau die unterschiedlichen Kontexte, in denen sie verwendet werden. Kulaçatan weiter: „Wir wissen aus der Forschung, dass die, die von Rassismus betroffen sind, permanent ihre Umgebung und Reaktionen kontrollieren müssen.“ Ein großes Problem sieht Kulaçatan darin, dass das Bewusstsein fehle, dass es sich beim Thema Rassismus um ein Querschnittsthema handle, das sehr viele Menschen bedroht. „Wir müssen stärker in die Bereiche der Betroffenen.“ Hier fehle es an nachhaltigen Strukturen, die diese Bereiche längerfristig analysieren und dann fordernd mit der Politik ins Gespräch gehen.

„Die Polizei und auch der Verfassungsschutz sind in den Moscheevereinen zwecks Beobachtung unterwegs. Es wäre allerdings angebracht, wenn Menschen die Erfahrung machen würden, dass diese vor Ort wären, um diese Institutionen vor Angriffen und Gefahren zu schützen und nicht zu beobachten.“ Laut Lindh haben solche Umstände ihre Wurzeln sowohl in den Alltagspraktiken als auch in der Sprache. Neben mehr Präzision in den Alltagsdiskursen fordert Lindh, dass die spezifische Kennzeichen des antimuslimischen Rassismus konkret benannt werden, um nicht länger zu verkennen, dass dieses Phänomen ein Problem der Mitte der Gesellschaft ist. „Es wird verkannt, dass diese Form von rassistischer Diskriminierung auch gerade im Namen der Demokratie geführt wird.“ Zudem sei es notwendig, dass Formen gefunden werden, die den Betroffenen Raum geben und sie sichtbar machen. Die breite Gesellschaft muss sich mit den Erfahrungen der Betroffenen stärker auseinandersetzen, um diese nachempfinden zu können.

Khola Maryam Hübsch machte in ihrem Beitrag auf die Missstände im öffentlich Kurs und insbesondere in der Berichterstattung aufmerksam. Zum einen werden Probleme regelrecht „muslimifiziert“. So werde nicht geschaut, was die Gründe für konkrete Missstände seien. Dadurch werde eine Gruppe von Menschen homogenisiert dargestellt und abgewertet, was wiederum dazu führe, dass sich bestimmte Rassismen entfalten können. Zum anderen schaffen es die Erkenntnisse in der Forschung nicht in den öffentlichen Diskurs. „So werden Forderungen aufgestellt, wie es in der Kopftuchdebatte der Fall ist, ohne aber, dass es eine empirische Grundlage gibt.“ An dieser Stelle brauche es eine stärkere Verschränkung zwischen der Wissenschaft und dem öffentlichen Diskurs. Hübsch fordert außerdem, dass Muslim:innen Teil dieser Debatten werden, anstatt dass nur über sie geschrieben wird.

Laut Karim Fereidooni gebe es in der Forschung Hinweise darauf, dass die Sagbarkeit von Rassismus mit unterschiedlichen Risiken behaftet ist. Ein Aspekt sei, dass in der Gesellschaft, der antimuslimische Rassismus und andere Ungleichheiten nicht skandalisiert werden. „Wenn wir über Rassismus oder antimuslimischen Rassismus sprechen, dann sollten wir über die Funktionshaftigkeit sprechen.” Die Skandalisierung führe dazu, dass Menschen, die über Rassismus sprechen, mundtot gemacht werden. Zudem funktionieren Wissenschaft und Politik nach unterschiedlichen Logiken. Das liege vor allem daran, dass eine ideologische Umsetzung der Forderungen nicht möglich sei und die Mehrheiten fehlen. So brauche es mehr finanzielle Förderung, etwa im universitären und schulischen Bereich, die sich mit antimuslimischem Rassismus beschäftigen. Letztlich gebe es an dieser Stelle kein Erkenntnis-, sondern ein klares Umsetzungsdefizit, lägen die wissenschaftlichen Erkenntnisse doch ausreichend vor.

Ayten Kiliçarslan fordert eine höhere Sichtbarkeit, nicht nur für das Phänomen als solches, sondern auch für die Betroffenen und für die Menschen, die dazu forschen. Kiliçarslan berichtete in ihrem Beitrag von den Umfrageergebnissen, die 2021 im Rahmen des Bundesprogramms „Menschen stärken Menschen“ ermittelt wurden. Dabei wurden 435 Pat:innen zu ihren Diskriminierungserfahrungen und Diskriminierungserfahrungen ihrer Mentees befragt. Die Ergebnisse werden in Kürze veröffentlicht. Sie verriet, dass es neben dem Alltag vor allem am Arbeitsplatz und im schulischen Bereich zu Diskriminierungen käme und der Grund für Diskriminierungserfahrungen überwiegend die gelesene, ethnische und religiöse Zugehörigkeit sei. In der Befragung fokussiert sich der Bedarf von Ehrenamtlichen bei der Begleitung und Unterstützung sozialbenachteiligter Menschen auf drei Punkte: Qualifizierung und Aufklärung über die Rechte und Strukturen in Deutschland, Aufbau unkomplizierter und barrierefreier Anlaufstellen, die Zielgruppennähe sichern können, Solidarität der Politik und Gesellschaft. Dafür brauchen wir in erster Linie politischen Willen, der sich beim Strukturaufbau der muslimischen Wohlfahrt zeigen wird.

Zum Schluss berichtete Sultan Bayindir von ihren Erfahrungen mit Mehrfachdiskriminierung, die sie während ihres Studiums der Sozialen Arbeit erfuhr. In einem Bewerbungsprozess wurden neben ihrer Blindheit auch ihr äußeres Erscheinungsbild und das Tragen eines Kopftuchs als Behinderung bezeichnet. „Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich nicht gewusst, dass mein Hijab ein Grund für Diskriminierung in der Sozialen Arbeit darstellt, wird hier doch Diversität großgeschrieben.“

Zu den Hintergründen der Online-Podiumsdiskussion: 2015 rief der Rat muslimischer Studierender und Akademiker Marwa El-Sherbinis Todestag zum Tag gegen antimuslimischen Rassismus aus. Im Prozess gegen den Mörder von Marwa hat die Staatsanwaltschaft zum ersten Mal antimuslimischen Rassismus als Tatmotiv benannt. Klicke hier für das Video zur Online-Podiumsdiskussion.