Die Lehren aus Solingen aus der Perspektive einer weisen anatolischen Frau Mevlüde Genç

23.05.2023

„Wo Liebe und Respekt sind, findet das Böse keinen Halt. Liebe lässt Menschen leben.“

Um die Haltung Mevlüde Gençs und die Auswirkungen des Solinger Attentats auf die Opfer, türkischstämmiger Menschen in Deutschland und auf den politischen Diskurs zu verstehen, müssen wir den Hintergrund der damaligen Atmosphäre in den 1980er und 90er-Jahre kennen.

Damals vergifteten Wahlkampfthemen rund um Menschen mit Migrationsgeschichte sowie Integration und Assimilation die gesamte Stimmung im Land. Diese Stimmung schürte eine Atmosphäre des Hasses welche die Ausübung von Gewalt gegen Zugewanderte als Folge hatte. Inhalte von Wahlkampagnen sowie der Populismus in den Medien mit den Überschriften wie „das Boot ist voll“ waren besorgniserregend und ein ernsthafter Multiplikator rechter Stimmung. Die Folge waren Brandanschläge, Gewalt und Attentate gegen Zugewanderte. Ein Beispiel war der rechtsmotivierte Brandanschlag in Schwandorf im Dezember 1988 welcher vier Menschen das Leben kostete. Weiter starb im November 1990ein fünfjähriges Kind im bayerischen Kemptendurch einen Brandanschlag, der erst Ende 2020 offiziell als Attentat von Rechtsextremen anerkannt wurde. Das Schlimme war, wir selbst wussten, dass all dies gezielte Anschläge gegen Türken, Muslime und alle Fremde waren, aber man suchte so wie es später beim NSU-Opfer der Fall war, die Schuldigen erst unter den Opferfamilien oder sah keinen weiteren Handlungsbedarf. Bei dem Brandanschlag im November 1992 in Mölln verstarben weitere drei Menschen. Bis die Polizei die Täter ermitteln konnte, galt der Familienvater selbstals Verdächtiger.

Weder die Brandanschläge oder Ausschreitungen vor den Asylantenheimen noch die Attacken auf der Straße fanden ein Ende. Alle waren besorgt und fragten uns was als nächstes kommen würde. Die Lage war außerordentlich angespannt. Genau in dieser Zeit in der Nacht vom 29. Mai 1993 geschah der Brandanschlag in Solingen. Mein Sohn war fast vier und meine Tochter 18 Monate alt. Sie waren Frühaufsteher, insbesondere wenn wir Besuch hatten. So erfuhren wir am Morgengrauen im Radio über den Brand in Solingen. Für mich und meinen Mann war es klar. Wir ahnten ohne genauere Details zu kennen, dass es sich wieder um eine ausländische Familie handeln musste. Das war in unmittelbarer Nähe und wir hatten den Drang mit unserem Besuch schnell hinzufahren. Unterwegs im Auto versuchten wir im Autoradio mehr über die Tat zu erfahren. Als wir in Solingen ankamen, folgten wir dem dichten Verkehr rund um die Polizeifahrzeuge. Als wir auf der Untere Wernerstrasse ankamen, war die Straße voll mit Menschen und Einsatzfahrzeugen. Viele der Anwesenden waren tief erschüttert und weinten. Auch junge Menschen mit Transparenten waren zu sehen und einige mit türkischen Fahnen. Es war erstaunlich, wie schnell die Menschen sich versammelten. Es waren Jugendliche, die wir ansonsten nicht direkt als Türk:innen identifizieren würden oder als Traditionelle oder als Nationalbewusste einordnen würden. Sie waren wütend, sie waren frustriert, sie waren beängstigt, sie waren traurig, so wie ich eben auch, mit vollen gemischten Gefühlen. Ich habe sie als Protestjugend wahrgenommen. Sie waren nicht deshalb vor Ort, weil sie auf Krawall aus waren, sondern sie wollten sich nach so vielen Toten und so vielen Verleumdungen, nach so viel Hass und Hetze, nach so viel Ignoranz und so vielen Straftaten zur Wehr setzen. Denn alleine im Jahr 1993 verübten in ganz Deutschland Rechtsextreme 6.721 Straftaten gegen „Ausländer“. Also 18,4 Straftaten pro Tag. Und die Straftaten gegen Behinderte, Linke und jüdische Gemeinden sowie nicht registrierte waren in dieser Zahl nicht eingerechnet. Solingen war für alle ein Wendepunkt. Ein Anlass, um ein Zeichen zu setzen und nicht mehr still zu sein. Das war der Zeitpunkt Dampf abzulassen. Solingen löste zugleich eine identitätsstiftende Welle aus. Jugendliche, die sich bis dahin nicht unbedingt als Türk:innen oder Ausländer empfunden hatten und unauffällig waren, gingen sichtbar als Türk:innen auf die Straße. Sie trugen türkische Fahnen auf der Stirn, am Hals oder um die Hüfte. Damals war es unüblich, türkische Fahnen als Kleidungsstücke insbesondere um die Hüfte zu tragen. Zum Erstaunen las ich dennoch später in den Medien, dass es sich um rechts orientierte türkische Jugendliche handeln würde. Somit wurden sie mit rechtsextremen Gewalttätern gleichgestellt und eine angebliche Ausgewogenheit geschaffen.

Überall in Deutschland spürte man Spannungen, die nur einen Funken bräuchten und es könnte überall eskalieren. Neben dem damaligen Ministerpräsident Johannes Rau übernahm hierzu Mevlüde Genç durch ihre Botschaften eine besänftigende Rolle. Rau war ein wichtiger Akteur, aufgrund seiner sensiblen politischen Haltung gegenüber Rechtsextremen und konnte seine Betroffenheit öffentlich zum Ausdruck bringen. Das Kanzleramt des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl hingegen zeigte diese sensible Haltung nicht und sprach von „Beileidstourismus“.

Deutschland lernte Mevlüde Genç nach dem schrecklichen Brandanschlag kennen. Sie war eine von vielen Zehntausend unsichtbaren Frauen, die unter uns lebten. Sevinç Yeşiltaş beschrieb sie wie folgt, als sie Mevlüde Genç in ihrer Dokumentation vorstellte; „Eine in ihrem Dorf als eine gewöhnliche Bäuerin, die niemand kennt, wurde in Deutschland eine muslimische Friedensbotschafterin, in deren Namen ein Friedenspreis verliehen wird.“ Ihr besonderes Auftreten in der Öffentlichkeit nach dem Brandanschlag hat sie in den Fokus gerückt und die wahre Größe, die sie in sich trug, zutage getragen. Über Nacht wurde sie das Gesicht der Menschen, die in den 90er-Jahren unter der verbreiteten Ausländerfeindlichkeit gelitten haben. Trotz ihrer Verluste verlor sie nicht ihre Fassung. Durch ihre besonnene Art war sie maßgeblich daran beteiligt, dass die angespannte Situation nicht eskalierte.

Als die Delegation die Familie Genç bei der Überführung der Opfer in die Türkei nach Amasya begleitete, sagte Mevlüde Genç beim Aussteigen aus dem Bus zu den versammelten Menschen in der Türkei: „Ich komme als Mutter, mein Schmerz ist groß. Ich habe hier auch deutsche Gäste. Ich möchte nicht, dass ihr ihnen gegenüber irgendwelchen negativen Reaktionen zeigt. Sie sind gekommen, um an unserer Trauer teilzuhaben. Lasst uns unsere Verstorbenen ohne Missgunst bestatten.“ Überall, wo sie Wut spürte, versuchte sie präventiv vorzugehen. Diese Gefasstheit wahrte sie auch, bis zum Ende der Gerichtsverhandlungen, die mit dem Urteil am 13. Oktober 1995 ihr Ende fanden. Sie konnte nur nicht den Tätern verzeihen. Sie sagte unermüdlich: „Lasst uns das Feuer des Rassismus, der Boshaftigkeiten und der Ausgrenzungen nicht befeuern. Wenn es aus dem Ruder läuft, verbrennt es uns alle.“

„Ich hege keinen Hass in mir. Ich unterscheide Menschen nicht danach, ob sie wohlhabend oder arm sind. Allah soll jeden reichlich bescheren. Wenn es meinem Mitmenschen gut geht, geht es mir auch gut. Wir sollen uns gegenseitig lieben.“ Seit dem ersten Tag an, hat sie ihren Schmerz in sich begraben und appellierte unermüdlich, wie als eine Friedens- und Toleranzbotschafterin, für Frieden, Freundschaft und Brüderlichkeit, Toleranz und Geduld, gegenseitigen Respekt und Liebe. Aufgrund dieser Bemühungen gilt sie als Vorbild für Verständigung und Versöhnung. Wegen ihres Beitrags zu einem friedlichen, vorurteilsfreien und angstfreien Zusammenleben ist Mevlüde Genç auch international mehrfach ausgezeichnet worden. Bei ihrer Rede anlässlich der Verleihung des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1996 sagte sie: „Ich bin nicht hergekommen, um eine Auszeichnung oder Medaille entgegenzunehmen. Ich bin gekommen, um euch ein Hauch Liebe, Geschwisterlichkeit und Freundschaft zu geben.“ Diese Botschaften hat sie immer wieder mit anderen Worten wiederholt. Wenn ein leidender Mensch so liebevoll über ihr Verhältnis zu Deutschland spricht, ist es kaum möglich, für die anderen in ihrem Namen Vergeltung zu verlangen. Sie hat auch diejenigen, die auf Vergeltung appellierten keine Aufmerksamkeit geschenkt. Sie sagte, „Liebe vernichtet alles Böse im Menschen. Wo Liebe und Respekt sind, findet das Böse keinen Halt. Liebe lässt Menschen leben, aber Hass tötet!“

Ihre Worte zu Barmherzigkeit ähneln den Weisheiten des türkischen Dichters und Mystikers Yunus Emre aus dem 13-14. Jahrhundert. Sie zitierte ihn; “Ich liebe die Geschöpfe aus Liebe zum Schöpfer heraus“ oft und sagte „das Leben ist vergänglich und dauert nur wenige Tage, wir sind hier nur zu Gast auf Erden. Wir müssen jeden Menschen, den Gott erschaffen hat, respektieren! Wir müssen uns gegenseitig wertschätzen! In dieser vergänglichen Welt müssen wir lernen, menschenwürdig zu leben. Wir können einander nicht alles geben, aber zumindest Liebe schenken. Lasst uns gemeinsam wie Geschwister, wie Freunde leben.“ Sie beschrieb ihre Gefasstheit folgend: „Ich habe nachts geweint, tagsüber meinen Kindern ins Gesicht gelacht. Damit sie nicht traurig werden und in ihren Herzen hassen.“ Über ihr Leid hat sie im Privaten kaum sprechen wollen. Sie sagte, „wir versuchen es nicht zu thematisieren und zu umgehen. Denn je mehr wir darüber sprechen, desto intensiver wird unser Schmerz. Besonders als die Kinder noch jünger waren, haben wir ein offenes Gespräch eher gemieden und wollten den Schmerz nicht lebendig halten und den Enkeln eine unbeschwerte Kindheit ermöglichen. Unsere Enkel haben von ihrem Umfeld erfahren, was damals passiert ist.“ Sie wusste, dass die Angst, schwer zu besiegen wäre, wenn die Menschen keine übergeordneten Ziele haben. In diesem Sinne war Mevlüde Genç eigentlich eine Wegweiserin. Sie hat durch ihre Haltung, dass sie trotz allem in Deutschland geblieben und das Land als ihre Heimat erklärt hat, dazu beigetragen, den Mutlosen Mut und den Hoffnungslosen Hoffnung zu geben. Durch ihre Haltung stärkte sie das ins Schwanken geratene Vertrauen in den deutschen Rechtstaat. Johannes Rau spielte als Ministerpräsident damals dabei eine entscheidende Rolle. Er war nämlich von Anfang an bei der Familie und hat sie nicht allein gelassen. Das hat der Familie auch Mut gegeben. Mevlüde Genç versuchte selbst eine Brücke zwischen beiden Ländern zu schlagen. In der Türkei sagte sie, „auch Deutschland ist meine Heimat“. Sie hat sich nicht verstellt und sagte nicht, was die Menschen von ihr hören wollten, sondern sagte das, was sie im Herzen trug. Deshalb war sie auch authentisch und glaubwürdig.

Die Stadt Solingen und die Politiker:innen versuchten der Familie beizustehen und damit das Signal zu geben, dass sie gegen Hass und gegen Hetze sind. Ein Signal zu geben, dass sie die Bemühung von Frau Genç wertschätzen und teilen. Es wurde ein Gedenkort mit Hilfe der Jugendhilfe-Werkstatt eingerichtet. In dieser Werkstatt schlugen junge Erwachsene zusammen mit Schülern Namen in Aluminiumstreifen, die dann auf einen Stahlring genietet und anschließend an das Mahnmal geschweißt wurden. Der Gedenkort ist Jahr für Jahr gewachsen, auch nach 30 Jahren kommen neue Ringe hinzu: von Menschen, die mit ihrem Namen gegen Rechtsextremismus und Rassismus stehen wollen. Insgesamt sollen es inzwischen mehr als 7000 sein.

Ob das Hakenkreuz so sichtbar bleiben soll oder doch durch die Ringe verdeckt werden sollte ist die Frage.

Ein weiteres kleines Denkmal steht an der Stelle, wo das verbrannte Haus mit der Hausnummer 81 stand. Als ich zuletzt bei der Trauerzeremonie vor dem verbrannten Haus stand, lief ich langsam an dem Grundstück entlang, an dem heute fünf Kastanienbäume stehen, stellvertretend für fünf Menschen. In fünf unterschiedlichen Größen, wie die verbrannten Opfer Gürsün İnce (1965), Hatice Genç (1974), Gülüstan Öztürk (1981), Hülya Genç (1984) und Saime Genç (1988).

Trotz der Kastanienbäume empfindet man eine große bedrückende Leere. Diese Leere steht für so viel Leid und Trauer. Ein mehrstöckiges Haus, eine mehrköpfige Familie wurden einfach ausradiert. Das Haus mit der Nummer 81. Die Familie Genç. Nach dem Gebäude mit der Nummer 79 folgt 85. Ein Sprung, der die Lücke so belanglos zurücklässt, fast unbedeutend. Ich sehe in die Leere vor mir und denke ein Museum, ein größeres Mahnmal muss hier stehen. Mit den Erinnerungen an Mevlüde Genç übernimmt mich ein Gefühl tiefster Trauer an diesem Ort. Ich kannte sie nicht nur flüchtig, sondern auch persönlich. Ich hatte die Überlebenden kennengelernt. Sie, ihren Mann und ihre Familie, die Schwiegertochter und den Sohn Bekir Genç, der selbst mit über 30 Operationen die Spuren dieser Tat trägt und deswegen noch heute nicht oft in der Öffentlichkeit gesehen werden will. Mevlüde Genç sagte einmal „Ich bin die Pflegerin meines verbrannten Sohnes Bekir“. Sie war unglücklich, aber sprach meist nicht davon. Konnte kaum schlafen. Vermisste ihre Liebsten und konnte nicht vergessen, wie sie vor dem Fenster standen und nach unten gerufen haben: “Mama rette uns”. Als sie sich gerettet hatte, dachte sie nämlich ihre Kinder wären bereits unten. Sie durfte danach nicht mehr nach oben und kann seitdem diese Bilder nie vergessen. Ihre Schwiegertochter, die Mutter ihrer Enkelkinder, wacht seit 29 Jahren jede Nacht nachts um drei auf. Was für ein Leid. Deshalb konnte Mevlüde Genç nie richtig lachen. Es war fast 30 Jahre her und immer noch sah man bei einem Lächeln die tiefe Trauer in ihren Augen. Ich frage mich, wieso dieses Mahnmal, ein kleiner Stein so klein, so unsichtbar ist. Obwohl die Spuren des rassistischen Brandanschlags und Attentats sowohl bei Familie Genç als auch in der Gesamtgesellschaft tiefe Wunden hinterlassen haben. Obwohl die Spuren bei Menschen, die aus anderen Ländern gekommen sind und hier in Deutschland ein friedliches Zusammenleben wollten, Angst geschürt haben. Obwohl die Spuren bei Menschen, die inzwischen Teil des Landes geworden sind, die 30 Jahre das Leid mit sich getragen haben, die mit Rassismus und Diskriminierung 1zu1 in Berührung kamen, scheinbar unüberwindbare Barrieren gebildet haben. Dieser Teil der Menschen wird sich immer daran erinnern, auch wenn die neue Generation, die nachkommt kaum etwas erfahren wird. Denkmäler sind wichtig für diese Generation. Für die Generation, die hier lebt und ihre Zukunft hier aufbauen möchten. Es ist wichtig und ihr Recht zu erfahren, was geschehen ist und wie solche Attentate die Gesellschaft spalten können und wie das Zusammenleben dennoch funktionieren kann.

In diesem Sinne möchte ich meinen Input mit den Worten und dem Vermächtnis von Mevlüde Genç beenden, die sie zuletzt in einem Gespräch mit meinem Mann an uns richtete:

“Sagt euren Kindern nicht böses. Liebt eure Kinder sehr. Wir müssen unsere Kinder gut erziehen, mit ihnen reden und ihnen von unseren Lebenserfahrungen erzählen. Wir müssen lernen, menschenwürdig zu leben und Menschen zu lieben. Liebe lässt Menschen leben, Hass tötet. Lasst uns wie Geschwister, wie Freunde miteinander leben.“ Dann beendete sie ihr Appell mit einem Vermächtnis: „Ich würde mich über den Bau eines Museums, das den Mordanschlag in Solingen stets in Erinnerung hält, sehr freuen.“

 

Ayten Kiliçarslan