Heute, am 01.11.2022 wurde Mevlüde Genç, die wir vor 2 Tagen verloren haben, auf ihrer letzten Reise unter Gebeten und Anwesenheit hunderter von Menschen, die sie geliebt und ins Herz geschlossen haben, begleitet. Ich verspüre eine tiefe unbeschreibliche Trauer, die mich umkommt, mich sprachlos macht und mir erschwert meine Gefühle zu beschreiben. Da stand ich, wieder an jenem Ort in Solingen, an dem ich vor 29 Jahren am 29. Mai 1993 mit meinen Kindern und meinem Mann gestanden habe. Genau dort, wo jetzt eine große Lücke ist, stand damals das Haus.
Man konnte noch den Rauch sehen, überall standen Einsatzfahrzeuge der Polizei und der Feuerwehr. Eine große Menschenmenge hatte sich vor dem Gebäude versammelt mit Fahnen und Initialen. Unter den Blicken aller Anwesenden, die tief erschüttert und fassungslos über die grausame Tat waren, wurden nacheinander die Särge der geborgenen Opfer aus dem Gebäude herausgetragen.
Nun 29 Jahre später, am 30.10.2022 dem 61. Jahrestag des deutsch–türkischen Anwerbeabkommens verlieren wir Mevlüde Genç, eine wundervolle Frau, die dieses große Leid erlebt und ein Leben lang in sich und mit sich getragen hat. Eine Frau, die fünf ihrer liebsten Menschen im Feuer des Rassismus vor ihren Augen verlor und mit 14 weiteren Familienangehörigen, die zum Teil schwer verletzt wurden, mitgelitten hat.
Langsam lief ich an dem Grundstück entlang, an dem heute fünf Kastanienbäume stehen, stellvertretend für fünf Menschen. Dennoch ist es eine große Leere. Obwohl diese Leere mit so viel Leid befüllt ist, wirkt alles gelöscht. Fast ausradiert wie eine Korrektur in einem Schreibheft. Einfach weg, das Haus Nummer 81. Übersprungen.
Nach dem Gebäude mit der Nummer 79 folgt 85. Ein Sprung, der die Lücke so belanglos zurücklässt, fast unbedeutend. Ich sehe in die Leere vor mir und denke „ein Museum, ein großes Mahnmal … vielleicht“. Mit den Erinnerungen an Mevlüde Genç übernimmt mich ein Gefühl tiefster Trauer an diesem Ort. Ich kannte sie nicht nur flüchtig, sondern auch persönlich. Ich hatte sie alle kennengelernt. Sie, ihren Mann und ihre Familie, die Schwiegertochter und den Sohn Bekir Genç der selbst mit über 30 Operationen die Spuren dieser Tat trägt und deswegen noch heute nicht oft in der Öffentlichkeit gesehen werden will. Mevlüde Genç sagte einmal „Ich bin die Pflegerin meines verbrannten Sohnes Bekir“.
Sie war unglücklich, aber sprach meist nicht davon. Konnte kaum schlafen. Vermisste ihre Liebsten und konnte nicht vergessen, wie sie vor dem Fenster standen und nach unten gerufen haben: “Mama rette uns”. Als sie sich gerettet hatte, dachte sie nämlich ihre Kinder wären bereits unten. Sie durfte danach nicht mehr nach oben und kann seitdem diese Bilder nie vergessen. Ihre Schwiegertochter, die Mutter ihrer Enkelkinder, wacht seit 29 Jahren jede Nacht nachts um drei auf. Was für ein Leid.
Ich habe in meinem Leben viele starke Frauen kennengelernt aber Mevlüde war und ist die stärkste unter ihnen. Von Anfang an konnte sie ganz genau unterscheiden, wer Täter war und wer die Gesellschaft. Sie hat die Täterschaft und die Gesellschaft voneinander trennen können und nie pauschale Urteile gefällt. Sie war eine Person, die die Menschen immer und immer wieder zur Versöhnung und zum Frieden aufgerufen hat. Den Attentätern, die sie ein Leben lang nicht vergaß, konnte sie nicht verzeihen. Aber außerhalb dessen appellierte sie jedem gegenüber unermüdlich für Frieden und Liebe. Nicht nur weil sie eine Person der Öffentlichkeit geworden war und in der Politik und Gesellschaft im Rampenlicht stand. Nein, sondern weil sie es sich zur persönlichen Pflicht gemacht hatte und weil sie wirklich daran glaubte.
Ich habe sie persönlich mehrfach getroffen. Sie war bei uns in der Familie, sie hat uns besucht. Aber meistens waren wir bei ihr, bei der ganzen Familie. Jedes Mal wurden wir wie ein Familienmitglied behandelt. Wir haben zusammen gegessen, zusammen versucht zu lachen und immer wieder hatte ich diese tiefe Trauer in ihren Blicken entdeckt, die sie davon abhielt aus Herzen zu lachen. Einmal nur habe ich es geschafft, dass wir nicht über den Anschlag in Solingen gesprochen haben, sondern über die Zeiten davor, wie es damals war. Und da, an diesem Moment, da habe ich es zum ersten Mal gesehen. Das Lächeln in ihren Augen. Dieser Moment hat mich bis heute nicht losgelassen, denn er hat mir gezeigt, wie Menschen so lange ein Leid mit sich tragen können und was dieses Leid aus ihnen macht.
Denn Mevlüde war nicht geschwächt. Ganz im Gegenteil. Sie war stärker geworden und sie hatte die Signale richtig gesetzt, durch welche Sie später von allen mit viel Anerkennung gewürdigt wurde.
Wieder gehe ich weiter und vor mir steht ein kleines Denkmal, unscheinbar, fast übersehbar. Ein Denkmal das präsent sein und die Menschen daran erinnern sollte was damals geschah.
Auf der Tafel steht:
“29. Mai 1993
An dieser Stelle starben als Opfer eines rassistischen Brandanschlags:
Gürsün İnce 04.10.1965
Hatice Genç 20.11.1974
Gülüstan Öztürk 14.4.1981
Hülya Genç 12.2.1984
Saime Genç 12.8.1988
Buradaki kundaklamada ırkçılığın kurbanı olarak hayatlarını kaybetmişlerdir.”
Ein kleines Denkmal obwohl die Spuren des rassistischen Brandanschlags und Attentats sowohl bei Familie Genç als auch in der gesamten türkischen Community tiefe Wunden hinterlassen haben. Obwohl die Spuren bei Menschen, die aus der Türkei gekommen sind und hier in Deutschland ein friedliches Zusammenleben wollten, Angst geschürt haben. Obwohl die Spuren bei Menschen. die inzwischen Teil des Landes geworden sind, die 29 Jahre das Leid mit sich getragen haben, die mit Rassismus und Diskriminierung 1zu1 in Berührung kamen, scheinbar unüberwindbare Barrieren gebildet haben. Obwohl die Spuren so groß sind, dass sie unvergessen bleiben werden.
Dieser Teil der Menschen wird sich immer daran erinnern, auch wenn die neue Generation, die nachkommt kaum etwas erfahren wird. Denkmäler sind wichtig für diese Generation. Für die Generation, die hier lebt und ihre Zukunft hier aufbauen möchte. Es ist wichtig und ihr Recht zu erfahren, was geschehen ist und wie solche Attentate die Gesellschaft spalten können und wie das Zusammenleben dennoch funktionieren kann.
Mevlüde Genç, eine beispiellose Frau ist von uns gegangen. Ein Mensch, der uns gezeigt hat, wie wir trotz der Geschehnisse die Gesellschaft zusammenhalten und mit ihr gemeinsam eine Zukunft aufbauen können.
Ruhe in Frieden liebe Mevlüde Ana. Wir beten für dich an Allah, dass du im Paradies mit deinen Liebsten verweilst.
Köln, 01.11.2022
Ayten Kılıçarslan