Der Bundestag hat sich am 16.01.2020 in der Grundsatzfrage zur Organspende für die erweiterte Zustimmungslösung entschieden. Die Zustimmungslösung garantiert das Entscheidungsrecht der Bürgerinnen und Bürger. Potenzielle Spender müssen weiterhin selbst aktiv einer Organentnahme zustimmen. Die Widerspruchslösung dagegen sieht eine passive Zustimmung vor, bei der jeder zum Spender wird, der oder die nicht widerspricht.
In der Diskussion um diese Gewissensfrage wurde von Befürwortern der Zustimmungslösung darauf hingewiesen, dass nicht jeder in der Lage sei, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Das könne psychische oder emotionale Gründe haben. Dieser Einwand ist berechtigt. So wird für jene, die zu widersprechen kaum in der Lage sind, die Widerspruchslösung zur Zwangslösung.
Der Kreis derer, deren Widerspruch auf große Hürden stößt, ist dabei noch weit höher. Insbesondere trifft es hier diejenigen, die über die wichtige Frage der Organspende gar nicht oder wenig informiert sind. Dies ist kein Vergehen, vor allem wenn man bedenkt, wie viele Menschen Analphabeten sind oder die deutsche Sprache nicht beherrschen. Im Falle einer Widerspruchslösung sind auch jene im Nachteil, die sich ernsthaft mit Formularen und Behörden schwertun. Der Informationsfluss solcher gesellschaftspolitischen Diskussionen erreicht viele Bevölkerungsteile oft nur schwer, zumindest nicht in dem Maße, dass es einen wesentlichen Beitrag für ihre Aufklärung und Entscheidungsfreiheit leisten könnte.
In der sozialen Arbeit machen wir die Erfahrung, dass viele weder einen Organspendeausweis haben noch sich mit dem Verfahren zur Organspende auskennen. Es bleiben viele Fragen offen. Hierzu gehört zum Beispiel die Frage nach dem Unterschied zwischen Hirntod und Herztod, oder wie oft Menschen, die als hirntot erklärt wurden, wieder aufwachen, ob bei der Organentnahme der Tote Schmerz empfindet. Würden Ärzte den Kampf um das Leben eines Organspenders nicht schneller aufgeben? Für viele sind auch theologische Fragen offen, so zum Beispiel, ob Hirntod überhaupt den endgültigen physischen Tod bedeutet und so im gegenteiligen Fall die Zustimmung zur Organspende einem Selbstmord gleichkäme etc.
In theologischen Fragen sind neben den Kirchen auch die muslimischen Religionsgemeinschaften gefragt. Sie müssen der Politik und dem Gesundheitswesen (einschließlich deren Ethikkommissionen) ebenso Impulse liefern, wie den potenziell Betroffenen, vor allem jenen, die religiöse Bedenken haben. Hier sind Fragen berührt, die zum ureigensten Gebiet von Religionen gehören: Fragen des Wesens und damit auch die physiognomische Messbarkeit oder Nicht-Messbarkeit von Leben und Tod, Wahrung der Menschenwürde der Sterbenden, aber auch die Verantwortung für die Kranken und die Minderung ihres Leids. Wo verläuft die Grenze zwischen palliativer und kurativer Versorgung, und gibt es eine weitere Grenze hin zur Organspende? Hier bedürfen muslimische Patienten, aber auch potenzielle muslimische Spender ernsthafter Aufklärung von Seiten islamischer Theologen. Diese müssen sich mit den Möglichkeiten moderner Medizin und den bisweilen leidvollen Realitäten menschlichen Lebens auseinandersetzen. Gläubige Menschen bedürfen der ernsthaften Auseinandersetzung der Theologen und ihrem Beitrag, um hier in Fragen ihres Gewissens, zumindest im ersten Schritt, Fragen des religiösen Wissens bewältigen zu können.
Ob Widerspruchslösung oder erweiterte Zustimmungslösung, der Bedarf nach einer umfassenden Informationskampagne ist immens. Hier sind besondere Bevölkerungsgruppen zu berücksichtigen und Organisationen mit ins Boot zu holen, die diese Gruppen leichter erreichen können. Hier ist das Gesundheitsministerium gefordert.